Göttingen kolonial

von Mike Burkhardt

Wie schon im vergangenen Herbst, anlässlich des Gedenkens an die Durchsetzung der Reformation in Göttingen, am 3.11.1529, haben Oberstufenschüler*innen der Georg-Christoph-Lichtenberg-Gesamtschule Göttingen das örtliche Stadtmuseum als Lernort aufgesucht.
Dieses Mal ging es nicht die historische Treppe hinauf zur Dauerausstellung „Stadt. Macht. Glaube. Göttingen um 1600“ (https://museum.goettingen.de/ausstellungen/dauerausstellung/ ABSOLUT EMPFEHLENSWERT!!!), sondern in die Räume der Sonderausstellung „Göttingen kolonial - 1870-1940“, die sich über das Erdgeschoss erstreckt.
„Hier haben wir gesehen, welche Geschäfte eine koloniale Vergangenheit haben - wie der Laden um die Ecke, und wieviele Gebäude in unserer Stadt überhaupt mit Kolonialismus zu tun hatten - das war krass! Deutlich mehr als gedacht…“ - Erkenntnisse, die gerade mal drei Infotafeln und einen Stadtplan betreffen. Dieser vielversprechende Anfang hat die Schüler*innen anschließend, mittels historischer Karten, in die Verbreitung der ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika, China und dem Pazifik eingeführt. Dabei lag der thematische Fokus auf Kiautschou und Namibia, da beide ehemaligen Kolonien in den Abiturmodulen releveant sind.
Die Biografien von zwei Fauen und zwei Männern, die mit der göttinger Kolonialgeschichte verwoben waren, boten den Jugendlichen geschlechterbezogene Anknüpfungspunkte mit unterschiedlichen geografischen Bezügen. Wie real diese Vergangenheit war, merkt man nicht nur, wenn der Name Rohns auftaucht, sondern auch bei der ausgestellten Handarbeit, auf der deutlich „Geismar“ zu lesen ist. Das dieses kissenbezuggroßes Exponat vor ca. 100 Jahren in einer indischen Missionsstation gewesen sein soll, ist für uns, heute, nur schwer vorstellbar.
Die herausragende Arbeit, die die Student*innen und Lehrkräfte der Uni Göttingen im Rahmen der Lehrveranstaltungen geleistet haben, und in dieser Ausstellung in Zusammenarbeit mit dem Stadtmuseum Göttingen der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, ist besonders in den übersichtlichen und informativen Texten zu sehen, die pointiert und multiperspektivisch sind und deutlich die kritische Reflexion der kolonialen Vergangenheit von Uni aber vor allem der Stadt zeigen. Respekt!
Spätestens im Ausstellungsbereich zum Thema „Gewalt und Widerstand in den Kolonien“ wird klar, wie blutig der Fußabdruck Göttingens auf dem Grund und Boden einiger Länder und Gebiete war. „Welchen Schrecken dabei vor allem die Soldaten eines bestimmten Regimentes verbreitet haben, können wir uns kaum vorstellen.“ „Besonders die Geschichte des sogenannten „Südwestafrika-Denkmals“ hat uns beeindruckt, vor allem, weil viele von uns nicht wussten, dass es das überhaupt gibt, geschweigedenn, wo es steht.“ „Was man damit machen sollte, wie die Ausstellung gefragt hat, werden wir in der Schule auf alle Fälle weiter diskutieren.“
Dass Göttingen nicht nur als Handelsknotenpunkt in den deutschen Kolonialismus verstrickt war, merkt man durch den zweiten thematischen Fokus, die Wissenschaft. Dass Forscher aus einer „Stadt, die Wissen schafft“ ebenfalls Forschungs- sowie Ausstellungsexponate aus fremden Gebieten „mitgebracht“ haben, um fremde Kulturen zu studieren, oder neben Tabak und Kakao einen Hauch Exotik in örtliche Ausstellungen zu bringen, mag bekannt sein. Aber welche Rolle der Wissenschaftsstandort Göttingen im Rahmen der Rassenkunde/-lehre gespielt hat, scheint erst durch die Forschung der Studierenden und die Kooperation mit dem Stadtmuseum einer breiteren Masse bekannt zu werden. „Wir haben bereits gelernt, dass multiperspektivisches und kritisches Arbeiten genau so aussehen sollte.“
Fazit: Wir haben heute Vormittag so viel gelernt, wie locker in zwei Monaten Kurssitzung und nehmen so viele Infos mit, die wir nie durch ein Buch bekommen hätten, schon gar nicht mit dem Regionalbezug zu unserer Heimat.

Wer sich selbst ein Bild machen will: https://museum.goettingen.de/ausstellungen/sonderausstellung/

 

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